Protokoll des Workshops "Zukunft der Wissenschaftsforschung" jetzt online: Download

 

Memorandum

Die Zukunft der sozialwissenschaftlichen Wissenschaftsforschung in Deutschland sichern

 

Warum ist sozialwissenschaftliche Wissenschaftsforschung wichtig?

Heutige Gesellschaften sind existentiell auf ein leistungsfähiges Wissenschaftssystem angewiesen, denn die Wissenschaft stellt das Wissen bereit, das zur Bewältigung immer komplexerer gesellschaftlicher Problemlagen erforderlich ist. Drängende Fragen wie die nach der zukünftigen Energieversorgung, weltweiter Ernährungssicherheit oder der Kontrolle der globalen Klimaveränderung erfordern vielfältiges disziplinäres, interdisziplinäres und transdisziplinäres Wissen. Der Bedarf an wissenschaftlicher Politikberatung ist in den letzten Jahrzehnten dramatisch gestiegen. Die Wissenschaftspolitik und zumal die öffentliche Forschungsförderung sind im Zuge dieser Entwicklung zu einem bedeutenden Politikbereich geworden.

Um jedoch die Wissenschaft und ihre Einrichtungen gezielt und effektiv zu fördern sowie zugleich auch die Folgen der wissenschaftlichen Entwicklungen insgesamt einschätzen zu können, bedarf die Wissenschafts- und Hochschulpolitik auf allen Ebenen – von der Hochschulverwaltung über das Design von Förderinstrumenten bis hin zu nationalen und supranationalen Innovationsstrategien – eines Reflexions- und Orientierungswissens. Dieses Wissen bezieht sich sowohl auf die internen Prozesse der Wissenschaft als auch auf die Wechselbeziehungen zwischen Wissenschaft und anderen gesellschaftlichen Teilbereichen (Politik, Wirtschaft, Recht, Medizin, Medien). Diese Prozesse sind Gegenstand der sozialwissenschaftlichen Wissenschaftsforschung, ebenso wie die Frage nach Qualitätssicherung, die inzwischen zunehmend auch die Öffentlichkeit beschäftigt. Im Gegensatz zu anderen Ländern, vor allem zu den USA, die sich durch eine hohe Wertschätzung einer facettenreichen Wissenschaftsforschung auszeichnen, fehlen hierzulande Initiativen zur durchgreifenden und nachhaltigen Etablierung sozialwissenschaftlicher Wissenschaftsforschung.[1]

Die gegenwärtige Lage der sozialwissenschaftlichen Wissenschaftsforschung

Die Situation einer wissenschaftsreflexiven Wissenschaftsforschung in Deutschland ist außerordentlich prekär. Mit Blick auf die deutsche Forschungslandschaft lassen sich drei Typen von Forschung unterscheiden: die Hochschulforschung, die an verschiedenen Orten institutionalisiert ist und ihren Forschungsschwerpunkt traditionell eher auf Lehre und Studium statt auf Forschung gelegt hat[2], die Technikforschung, die ebenfalls an einigen Orten institutionalisiert ist und personelle und thematische Überschneidungen zur Wissenschaftsforschung aufweist. Zahlenmäßig den anderen unterlegen ist drittens die sozialwissenschaftliche Wissenschaftsforschung, die institutionell am wenigsten abgesichert ist und kleinere, temporär angelegte Projektgruppen umfasst[3] oder einzelne Professuren, die auf eigene Initiative der Stelleninhaber und neben ihrem Hauptaufgabenfeld sozialwissenschaftliche Wissenschaftsforschung betreiben, ohne diesbezügliche dauerhafte Ressourcen.

Die sozialwissenschaftliche Wissenschaftsforschung wird insgesamt vor allem in Anwendungs- und Projektbezügen betrieben, ohne eine solide Grundausstattung. Durch die Projektförmigkeit der Forschung bleibt zu wenig Raum für eine nachhaltige methodische und theoretische Weiterentwicklung des Feldes. BMBF-Förderprogramme im Bereich Wissenschafts- und Hochschulforschung helfen, die sozialwissenschaftlichen Forschungsleistungen temporär zu stärken, geben zugleich jedoch ein spezifisch fokussiertes und damit eingeschränktes Themenspektrum vor. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist nicht einschätzbar, wie sich die Forschungslandschaft insgesamt entwickeln wird vor dem Hintergrund einer Institutsschließung (IWT, Bielefeld), der rezenten Mittelkürzung des Instituts für Forschungsinformation und Qualitätssicherung (IfQ, Berlin) und der noch abzuwartenden Zukunft des HIS. Dem gegenüber steht eine geringe Anzahl von Neugründungen, jeweils verbunden mit der Chance auf eine breiter aufgestellte theoriegeleitete Wissenschafts- und/oder Technikforschung (Internationales Forum Wissenschaft Bonn, Munich Center for Technology in Society an der TU München).

Ob, wie vom Wissenschaftsrat in seinem jüngst vorgelegten Evaluationsbericht zum HIS (Hochschul-Informations-System GmbH) empfohlen, eine „Zusammenführung von Frage- und Problemstellungen aus den Bereichen der empirischen Hochschul-, Bildungs-, Wissenschafts- und Organisationsforschung in international vergleichender Perspektive“[4] an den geplanten oder den noch bestehenden Orten gelingt, hängt vor allem auch von der Ermöglichung langfristiger Forschungsperspektiven ab. Eine derartige Verknüpfung von benachbarten Forschungsfeldern wäre für die Entwicklung des Feldes dringend nötig und würde ebenso dem artikulierten Interesse einer evidenzbasierten Politikberatung entgegenkommen. Auch die geringe internationale Sichtbarkeit der deutschen sozialwissenschaftlichen Wissenschaftsforschung kann auf ihre gänzlich unzureichende Institutionalisierung zurückgeführt werden. Dabei könnten von einer theoriegeleiteten empirischen Forschung in Deutschland wichtige Impulse für die internationale Wissenschaftsforschung auf den Gebieten der Science and Technology Studies, der Science Policy Studies und der Higher Education Studies ausgehen. Daher ist der Vorschlag des Wissenschaftsrates nur zu begrüßen, eine umfassende Bestandsaufnahme der Stärken und Schwächen der empirischen Hochschul-, Wissenschafts- und Bildungsforschung in Deutschland zu erarbeiten.[5]

Das vorliegende Memorandum adressiert die Förderung sozialwissenschaftlicher Wissenschaftsforschung, doch muss gleichwohl Wissenschaftsforschung als interdisziplinäres Unterfangen angesehen werden, das nur auf der Grundlage systematischer Forschung in den beteiligten Disziplinen gelingen kann. Während jedoch die Wissenschaftsgeschichte und die Wissenschaftsphilosophie als zwei dieser Disziplinen über mehrere Lehrstühle oder Forschungsinstitute wie das Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin verfügen, fehlt es der sozialwissenschaftlichen Wissenschaftsforschung an einer entsprechenden identitätsstiftenden Einheit. Ein institutionalisierter Rahmen für die theoriegeleitete empirische Wissenschaftsforschung ist angesichts der disparaten Entwicklung des Feldes dringend notwendig, um die wissenschaftliche Entwicklung auf dem Gebiet voranzubringen und den wissenschaftspolitischen Anforderungen an Interdisziplinarität, Internationalisierung und Praxisrelevanz zu entsprechen.

Es gibt deshalb einen besonderen Bedarf, institutionelle Strukturen zu schaffen, um die relevanten Themen der sozialwissenschaftlichen Wissenschaftsforschung in ihrer Breite zu fördern, die Schnittstellen zu benachbarten Disziplinen auszubauen und zu pflegen und den erforderlichen wissenschaftlichen Nachwuchs auszubilden und zu fördern. 

Appell für die Förderung der Wissenschaftsforschung

Die Unterzeichner appellieren deshalb an die Wissenschaftspolitik von Bund und Ländern sowie an die zentralen Forschungsfördereinrichtungen, die Situation der sozialwissenschaftlichen Wissenschaftsforschung in Deutschland durch konkrete Maßnahmen zum Aufbau einer angemessenen Lehr- und Forschungskapazität in diesem Bereich zu verbessern.

Kurz- und mittelfristig wären folgende Instrumente denkbar, um die Entwicklung der Wissenschaftsforschung in Deutschland zu gewährleisten:

- Gezielter Aufbau von nachhaltigen Förderstrukturen im Bereich der sozialwissenschaftlichen Wissenschaftsforschung, die auch den fortgeschrittenen wissenschaftlichen Nachwuchs miteinschließen

- Weiterführung der BMBF-Programmförderung im Bereich Wissenschaftsforschung, Hochschulforschung und Wissenschaftsökonomie

- Einrichtung von (Stiftungs-)Lehrstühlen zur sozialwissenschaftlichen Wissenschaftsforschung, als Ergänzung der bereits gut institutionalisierten Wissenschaftsphilosophie und Wissenschaftsgeschichte

- Förderung einer stärkeren institutionell-organisatorischen Verknüpfung von Hochschulforschung mit Wissenschaftsforschung an den vorhandenen Standorten, um die Theoriebildung und Methodenentwicklung voranzutreiben

- Gezielte Unterstützung von Neugründungen oder bereits existierenden Ansätzen für sozialwissenschaftliche Wissenschaftsforschung, um jenseits von Programmförderung und Auftragsforschung theoriegeleitete und empirisch gehaltvolle Wissenschaftsforschung durch institutionelle Absicherung zu ermöglichen.

 

26. März 2013



[1] So wunderte sich Martin Spiewak jüngst in der ZEIT vom 7. Februar 2013, dass trotz des augenscheinlichen Forschungsbedarfs wissenschaftsreflexive Forschung in Deutschland heutzutage kaum mehr stattfindet: „Der letzte Sonderforschungsbereich, der das Thema Wissenschaft selbst zum Thema hatte, stammt aus den 1970er Jahren“.

[2] In seiner aktuellen Stellungnahme zum HIS Institut für Hochschulforschung machte der Wissenschaftsrat zudem auf das Problem mangelnder Forschungsimpulse aus der Hochschulforschung infolge „zweck- und auftragsgebundener Dienstleistungen“ aufmerksam und empfahl nicht nur eine komplette Neuausrichtung des Hannoveraner Hochschulforschungsinstituts, sondern mahnte auch für das gesamte Feld eine „forschungsorientierte Neuausrichtung“ an (Wissenschaftsrat 2013: Stellungnahme zum HIS Institut für Hochschulforschung (HIS-HF), Hannover, Drs. 2848-13, Berlin 25. 01. 2013). Hier gibt es mit dem International Centre for Higher Education Research (INCHER) an der Universität Kassel bereits einen Vorreiter, die Hochschulforschung stärker mit der Wissenschaftsforschung zu verknüpfen (vgl. die Einschätzung von C. Prußky: Ein Hauch von Freiheit, duz Magazin, 3/2013, 32-33).

[3] So auch zunächst die Forschungsgruppe Wissenschaftspolitik am WZB, die aber jüngst institutionell stabilisiert und bis Ende 2019 verlängert wurde.

[4] Wissenschaftsrat (2013): 10.

[5] Ebd.: 15.